Allein im Jahre 2020 wurden in der Schweiz 350'000 temporäre Mitarbeiter vermittelt. Davon hatten 1640 einen schweren Unfall, bei dem sie mehr als 90 Tage Taggeld bezogen. Temporäre Mitarbeiter haben generell höhere Unfallrisiken als festangestellte Arbeitnehmende, da sie oft schlechter eingeführt und instruiert werden.
Die Situation
Erich Temporär, der Geschädigte, wurde vom Personalvermittler Claude Muster an die Baufirma Top Bau AG verliehen. Er wird vom Polier Sandro Polieri gleich zur Arbeit auf eine fahrbare Hubarbeitsbühne geschickt, um sofort mit der Deckenreparatur zu beginnen. Erich Temporär kennt dieses Gerät nicht und kann es nicht optimal bedienen. Es ruckelt und einmal touchiert er sogar die Wand. Sandro Polieri bemerkt, dass Erich Temporär nicht geeignet ist für diese Arbeit und teilt dies seinem Chef Martin Meister mit. Dabei ist seine grösste Sorge, dass die gemietete Hubarbeitsbühne durch die unsachgemässe Bedienung beschädigt werden könnte. Martin Meister lässt Erich Temporär jedoch noch weiterarbeiten, da seine Baufirma mit diesem Auftrag unter Zeitdruck steht. Erich Temporär soll noch so lange arbeiten, bis ein neuer Arbeiter organisiert werden kann, der ihn ersetzt.
Doch dann fährt Erich Temporär über ein am Boden liegendes Kantholz. Da er nicht angegurtet ist, wird er vom Schlag aus dem Korb der Hubarbeitsbühne geworfen und stürzt aus 4,5 Metern Höhe in die Tiefe, wo er schwer verletzt liegen bleibt.
Der folgende fiktive Gerichtsprozess zeigte genau auf, welche weit reichenden Folgen sich neben dem Leid für die Angehörigen für alle Beteiligten ergeben. In diesem fiktiven Straf- und Zivilprozess waren echte Richter und Anwälte beteiligt, die aufzeigten, wie ein solcher Fall in der Realität verhandelt wird. Die Teilnehmenden hatten damit einen sehr guten Einblick in das Geschehen und konnten mitdiskutieren und vor Ort ihre Fragen stellen.
Die Gerichtsverhandlung im Strafprozess
Der Gerichtspräsident Pierino Orfei eröffnet den Strafprozess. Er fragt Erich Temporär, wie es ihm gehe. Dieser erwidert, dass es ihm schlecht gehe, da er nicht mehr alle alltäglichen Dinge bewältigen könne. Er habe Schmerzen, gehe am Stock und sei seit dem Unfall auf einen Katheter angewiesen, zudem habe er für den Rest seines Lebens Erektionsstörungen.
Dann stellt Pierino Orfei Erich Temporär einige Fragen über die Situation zum Arbeitsvermittler und zur Baufirma. Bei der Frage von Pierino Orfei, warum der Geschädigte sich nicht angegurtet hätte, antwortet ihm Erich Temporär, er habe es vergessen, zudem würden diese Gurte einen einschränken. Auf die Aussage von Erich Temporär: „Ich würde gerne die Zeit zurückdrehen“, erwidert Pierino Orfei: „Das glaube ich“.
Schnell kristallisiert sich heraus, dass an jenem Montagmorgen eine grosse Hektik im Baubetrieb herrschte, wo der Geschädigte arbeiten sollte. Einige Lieferungen waren nicht eingetroffen. Der Polier Sandro Polieri war mit der Organisation beschäftigt und händigte Erich Temporär die Schlüssel zwischen zwei Telefonaten aus. Sandro Polieri ging davon aus, dass Erich Temporär das „Billet“ zur Bedienung der Hubarbeitsbühne hatte und fragte deshalb nicht danach. Er sah jedoch, dass Erich Temporär sehr ruckartig fuhr. Sandro Polieri hatte alles Material zur Sicherung für Erich Temporär bereitgelegt. Auch die Fallschutzsicherung zum Einhängen. Erich Temporär hatte diese zwar angezogen, jedoch nicht eingehängt und war somit nicht gesichert. Polieri hatte nicht gesehen, dass Temporär nicht angegurtet war. Auch hatte Polieri ihn nicht auf das Angurten hingewiesen, da es für ihn selbstverständlich war.
Sandro Polieri fühlte sich unschuldig, er hatte lediglich Angst um die Hubarbeitsbühne. Martin Meister, CEO der Top Bau AG ging davon aus, dass Erich Temporär die entsprechende Ausbildung und Bewilligung für das Bedienen einer Hubarbeitsbühne hat und prüfte es deshalb nicht nach. Deshalb ist er klar der Meinung, dass der Fehler eindeutig beim Vermittler liegt, der die Ausbildung der temporären Arbeiter kontrollieren muss.
Zudem betont Martin Meister: „Unsere Sicherheitsstandards sind hoch. Jeden Monat kommt jemand vorbei und kontrolliert die Baustelle auf Gefahren. Es gibt auch regelmässige Schulungen.“
Claude Muster, Arbeitsvermittler der Temporent AG bekam die Information, dass eine Decke repariert werden müsse. Die Baufirma suche einen Mitarbeiter, der Deckenarbeiten machen kann, sehr exakt arbeite und Erfahrung hat. Herr Temporär hatte gute Qualifikationen und war zuverlässig. Bis jetzt hatte immer alles sehr gut geklappt.
Claude Muster ist der Meinung, dass die Eignung eines Arbeiters vom Betrieb geprüft werden müsse. Martin Meister verlangte einen Mitarbeiter für eine Hubarbeitsbühne.
Claude Muster ging jedoch davon aus, dass es sich bei der Deckenarbeit bei der „Bühne“ um ein Gerüst handle, das nicht bewegt werde. Deshalb fühlt auch er sich unschuldig. Er beteuert, dass in Zukunft genaue Abklärungen gemacht würden in Bezug auf Ausweis, Ausbildung und Gefahrenquellen.
Straf-Anträge, Plädoyers und Urteil
Der Staatsanwalt fordert Strafen für:
- Martin Meister, Top Bau AG, da er sich nicht erkundigt hat, ob Erich Temporär sein Handwerk beherrscht und die Arbeit nicht gestoppt hat.
- Sandro Polieri, da er Erich Temporär nicht eingeführt und nach Beginn der Arbeiten sich nicht für einen Abbruch entschieden hat.
- Claude Muster, da er sich nicht erkundigt hat, welche Ausbildung Erich Temporär hat. Ihm war nur der Auftrag zur Vermittlung wichtig. Er wusste nicht einmal richtig, um welche Arbeit es sich handelt. Deshalb ging er von einem Gerüst, anstatt von einer Hubarbeitsbühne aus.
Der Rechtsanwalt (von Martin Meister) Markus Spielmann will zeigen, dass die Firma Top Bau AG keine Schuld trifft. Meister habe eine fehlerfreie Maschine gemietet und einen geeigneten Temporären bestellt, der ihm vermittelt wurde. Zudem wurde der Temporäre durch den Polier überwacht. Damit fehle es an allem für eine Verurteilung.
Dabei stellt er die Frage: „Musste Herr Meister damit rechnen, dass jemand so verpeilt ist, die Fallschutz-Sicherung anzuziehen, jedoch nicht einzuhängen?“ Deshalb erklärt Markus Spielmann, das Fehlverhalten des Temporären unterbricht die Kausalkette, deshalb ist der Baumeister freizusprechen. Die Verfahrenskosten sind dem Staat aufzuerlegen.
Der Rechtsanwalt Michael Meier (von Sandro Polieri) erläutert: Claude Muster wusste, dass es sich um eine Hubarbeitsbühne handelte und hat den Temporären gesandt. Sandro Polieri hat den Temporären richtig eingeführt (nicht zwischen 2 Telefonaten) und ihm die Schlüssel übergeben. Erich Temporär hat keine Fragen gestellt, deshalb war Polieri sicher, dass alles in Ordnung war. Polieri hat also alles richtig gemacht. Da Sandro Polieri Erich Temporär hat arbeiten lassen, ist er seinem Auftrag nachgekommen. Sandro Polieri befürchtete lediglich einen Sachschaden, aber nicht mehr. Man könne jetzt meinen, nur weil Sandro Polieri Vorgesetzter war, sei er auch verantwortlich zur Verhinderung von Unfällen. Die Sicherheit beginne jedoch immer bei einem selbst. Erich Temporär ist über das Kantholz gefahren und hat sich nicht angegurtet. Dieser Unfall war nicht vorhersehbar, deshalb ist Sandro Polieri freizusprechen. Die Verfahrenskosten sind dem Staat aufzuerlegen.
Die Rechtsanwältin Claudia Trösch (von Claude Muster) begründet: Claude Muster hat Erich Temporär an Top Rent AG geliehen und es sei eine Hebe- Gerätschaft im Spiel gewesen (kein Wort von einer Hubarbeitsbühne). Es wurde auch keine Ausbildungsbestätigung verlangt. Claude Muster hat also keine Sorgfalts-Pflichtverletzung begangen. Er hat auf Anfrage hin vermittelt und ging davon aus, dass Erich Temporär auf der Baustelle entsprechend instruiert würde. Die Gefahr begann erst auf der Baustelle. Die adäquate Kausalität wird unterbrochen durch das Verhalten des Geschädigten. Erich Temporär ging auf die Baustelle, Polieri übergab ihm im Stress die Schlüssel und die Ausrüstung. Erst später sah Polieri, dass Erich Temporär schlecht arbeitete. Polieri rief den Chef an und informierte ihn. Doch wegen Zeitdruck mussten die Arbeiten fortgeführt werden. Geld ging also vor Sicherheit. Für diese Tatsache spreche auch, dass die Sicherheitsberater von Top Bau AG extern und nicht vor Ort waren. Die Sicherheit sei bei der Baufirma nicht wichtig, sonst wäre auch kein Kantholz auf dem Boden gelegen. Claude Muster hatte also zu keinem Zeitpunkt Kenntnis davon, dass Erich Temporär eine Arbeit hatte, die ihn überforderte. Claude Muster habe nur vermittelt, in der Annahme, Erich Temporär sei geeignet, deshalb sei Claude Muster freizusprechen. Die Verfahrenskosten sind dem Staat aufzuerlegen.
Das Strafprozess-Urteil lautet wie folgt …
Sandro Polieri: Bedingte Gefängnisstrafe von 12 Monaten, 3000 Franken an Gerichtskosten.
Martin Meister: Bedingte Gefängnisstrafe von 8 Monaten, 3000 Franken Gerichtskosten.
Claude Muster: Freispruch vom Vorhalt der fahrlässig schweren Körperverletzung.
Die Verhandlung wird geschlossen.
Der Zivilprozess
Erich Temporär verlangt eine happige Entschädigung. Die Anwälte empfehlen, die Klage abzulehnen. Markus Spielmann, Anwalt von Top Bau AG, fasst zusammen: Erich Temporär hat vorgegeben, die Arbeiten ausführen zu können, jetzt stellt er absurde Schadenersatzforderungen.
Die Richterin Barbara Hunkeler stellt verschiedene Fragen, um die Situation zu klären.
Erich Temporär erklärt, Claude Muster habe ihm gesagt, dass er mit einer Hubarbeitsbühne arbeiten müsse und er erwiderte, dass er dies könne. Er wusste nicht, dass man dafür eine Ausbildung braucht.
Die Firma Top Bau AG wusste nicht, dass Erich Temporär diese Arbeit nicht beherrscht.
Claude Muster wusste nicht genau, was sein „geliehener Arbeiter“ bei der Top Bau AG machen sollte. Er war überzeugt, dass von einem Gerüst und nicht von einer Hubarbeitsbühne die Rede war. Er hat jedoch die Sicherheits-Checkliste der Suva nicht angewendet. Claude Muster rechnete damit, dass Erich Temporär ihn kontaktieren würde, wenn er etwas vorfände, das er nicht kennt.
Martin Meister erklärte, er habe einen Arbeiter gesucht, der eine Hubarbeitsbühne bedienen könne. Erich Temporär wusste, was er zu tun hatte, wo er arbeiten musste und er hatte die Schutzausrüstung erhalten. Martin Meister ging davon aus, dass wenn jemand die Fallschutz-Sicherung anzieht und nicht einhakt, sich bewusst ist, dass er sich in Gefahr begibt.
Plädoyers der Anwälte
Roger Zenari, Anwalt von Erich Temporär wendet ein: Die Top Bau AG hätte die Arbeiten stoppen, Erich Temporär instruieren und wenn nötig ihn nach Hause schicken müssen. Der Auftraggeber hat die gleichen Schutzpflichten den festen Angestellten und den Temporären gegenüber.
Somit hat die Top Bau AG den Unfall billigend in Kauf genommen – das war grob fahrlässig. Auch der Vermittler Claude Muster handelte grob fahrlässig.
Claudia Trösch, Anwältin von Claude Muster findet, dass die finanziellen Forderungen abgelehnt werden sollten. Die temporäre Arbeitsvermittlung verleiht die Arbeiter an fremde Orte, somit weiss der Verleiher nicht, was die Arbeiter dort genau erwartet.
Der Polier hätte es jedoch merken müssen. Er hat gesehen, dass Erich Temporär nicht geeignet war für diese Arbeit. Er hat nur seinen Chef angerufen. Der Geschädigte hätte auch melden müssen, dass er dieses Gerät nicht kennt. Das Unterlassen des Anseilens an der Hubarbeitsbühne ist für den Geschädigten ebenfalls belastend und unverständlich. Dem Geschädigten ist ein krasses Selbstverschulden zu attestieren.
Der Kläger verlangt eine Genugtuung von 180 000 Franken. Die Berechnung erfolgte nach Sake-Tabellen (Aufwendungen im Haushalt).
Claudia Trösch, Anwältin von Claude Muster erklärt, dass die Temporent AG keine Haftung trifft. Die Schadensansprüche sind abzuweisen, da die überrissenen Forderungen die Existenz eines Unternehmens gefährden.
Markus Spielmann, Anwalt von Martin Meister erklärt:
Herr Polieri hatte erkannt, dass der temporäre Arbeiter ungeeignet war und wollte ihn ersetzen. Er konnte nicht wissen, dass Erich Temporär sich nicht anseilte.
Das Selbstverschulden des Unfallopfers wiegt schwer. Das Temporärbüro hat auch eine Schuld. Es hat einen Arbeiter zu einem Einsatz geschickt, für den er nicht ausreichend ausgebildet war. Herr Meister hat alle Sicherheitsvorkehrungen eingehalten. Es fehlt am Kausalzusammenhang. Die Kausalkette wird durch das fehlerhafte Verhalten des Geschädigten unterbrochen. Deshalb ist die Klage abzuweisen.
Roger Zenari, Anwalt von Erich Temporär schildert die Situation des Geschädigten:
Erich Temporär ist ein gebrochener Mann, vorher stand er in der Blüte des Lebens.
Es wurde geschlampt, es wurde nicht abgeklärt, was Erich Temporär kann, er wurde zwischen zwei Telefonaten auf die Baustelle geschickt.
Die Urteilsverkündung im Zivilprozess
Erich Temporär wird den erlernten Beruf im Baugewerbe nie mehr ausführen können.
Er hatte sich beim Unfall einen Bruch an der Hüftgelenkspfanne, sowie Frakturen an den Sprunggelenken und der Lendenwirbelsäule zugezogen. Zudem werden ihn für den Rest des Lebens ein Blasenkatheter und Erektionsstörungen begleiten. Er hat Schmerzen und wird ein Leben lang in ärztlicher Behandlung bleiben. Er ist nur zu 30% arbeitsfähig. Er hat jetzt einen Bruttolohn von 13800 Franken pro Jahr von seiner Arbeit in einem Spielautomatenmuseum – diese Arbeit hat er dank seines Cousins bekommen.
Das Gericht kam zu folgenden Schlüssen: Die Temporent AG vermittelte der Top Bau AG einen Temporärmitarbeiter, der nicht über die für die Bedienung einer Hubarbeitsbühne notwendige Qualifikation verfügte (fehlender Ausbildungsnachweis), obwohl die Top Bau AG ausdrücklich einen Mitarbeiter für die Arbeit mit einer Hubarbeitsbühne gesucht hatte. Mit ausreichender Dokumentation über die Qualifikationen der Mitarbeiter und genauem Nachfragen nach dem Kundenwunsch hätte der Fehler vermieden werden können.
Die Top Bau AG prüfte die Qualifikation des Temporärmitarbeiters vor dessen Arbeitsantritt nicht nach. Sie instruierte den Temporärmitarbeiter vor Ort nur unzureichend über die zu verrichtende Arbeit und die zu bedienende Maschine. Die Top Bau AG überwachte den Temporärmitarbeiter nicht und liess ihn ohne Intervention weiterarbeiten, obwohl der Polier festgestellt hatte, dass dieser die Hubarbeitsbühne nicht beherrschte. Auch wurde übersehen, dass er die persönliche Schutzeinrichtung nicht korrekt verwendete.
Der Temporärmitarbeiter wies vor Arbeitsantritt nicht auf die fehlende Ausbildung und Kenntnis der zu bedienenden Maschine hin. Er verlangte keine weitere Instruktion für die zu verrichtende Arbeit und die zu verwendende Maschine, obwohl ihm die Aufgabe unklar, bezw. dieser Typ Hubarbeitsbühne unbekannt war. Er verwendete die persönliche Schutzausrüstung nicht korrekt, obwohl er damit von früheren Einsätzen her vertraut war.
Die Haftungsanteile werden wie folgt bemessen: Die Top Bau AG und Temporent AG haften gegenüber dem Kläger solidarisch mit 80% des Gesamtschadens. Die internen Haftungsquoten betragen für die Top Bau AG 2/3 und für die Temporent AG 1/3.
Für den Geschädigten beträgt der Anteil 20 Prozent, also 1/5 des Gesamtschadens. Für den Erwerbsausfall und die Genugtuung ist das Quotenvorrecht zu berücksichtigen, so dass sich die Haftungsreduktion hier nicht zu Lasten des Geschädigten auswirkt.
In Zahlen ausgedrückt betragen die Anteile der Top Bau AG 311'600 Franken und der Temporent AG 155'800 Franken. Die Verhandlung wird geschlossen.
Fiktive Gerichtsverhandlung zu anderem Unfall in Kurz-Video (5 Minuten): Lebenswichtige Regeln schützen Menschenleben und verhindern Unfälle aller Art. Bei diesem fiktiven Fall wurde der Arbeitsschutz missachtet. Das Resultat: Ein Lernender einer Baufirma ist nun im Rollstuhl.