Gianrico Settembrini, Ihr Ansatz einer Kreislaufwirtschaft geht über die reine Steigerung von Energieeffizienzen hinaus und vermeidet Abfall (verwerten, recyceln) sowie Umweltverschmutzung ganz am Anfang: Materialien sollen möglichst lange in Gebrauch gehalten werden, und man will von dem momentanen enormen Ressourcenverschleiss unseres Wirtschaftssystems wegkommen. Was sind Ihre Gedanken dazu?
Laut den Klimaszenarien (CH2018) kann es in der Schweiz bei weiter steigenden Treibhausgas(THG)-Emissionen Mitte des Jahrhunderts in einem durchschnittlichen Jahr bis 4,5 °C wärmer als am Ende des letzten Jahrhunderts sein. Dies wird global verheerende Folgen haben. Die jährlichen Treibhausgasemissionen der Schweiz entsprechen rund 45 Mio. Tonnen CO2. Rund 40% davon erzeugt der Gebäudepark.
Ein grosser Teil davon sind «graue» THG-Emissionen, die unter anderem beim Erstellen der Gebäude sowie bei Produktion und Transport der Baustoffe und Bauteile gemäss Bafu 2020 entstehen. Wollen wir die THG drastisch reduzieren, reichen Optimierungen im Betrieb von Gebäuden, z.B. durch Steigerung der Effizienz, nicht aus; das muss man ganz klar erkennen. Diese sind gut, es sind jedoch ebenfalls gesamtheitlichere Ansätze dringend notwendig. Die grössten Hebel zur Reduktion der THG-Emissionen lassen sich in der Kreislaufwirtschaft durch die Begriffe «Refuse» (Ablehnen), «Rethink» (Überdenken) und «Reduce» (Reduzieren) beschreiben. Diese lassen sich sowohl auf den Betrieb als auch auf die Erstellung der Gebäude anwenden.
Über 50% der weltweiten Treibhausgase entstehen durch den Energieverbrauch, doch fast die Hälfte dieser Gase stammen aus Produktionsprozessen (Industrie, Landwirtschaft und Landnutzung). Eine Kreislaufwirtschaft soll Produkte und Dienstleistungen unter Berücksichtigung von Effizienz, Wiederverwendbarkeit und Recyclingfähigkeit entwerfen. Wie realistisch ist das?
Realistisch ist es wohl nur, wenn auf allen Ebenen angesetzt wird. Dies bedingt einen grundsätzlichen Wechsel in der Einstellung zu unserem alltäglichen Konsumverhaltens. Beim Bauen heisst das: ein Wegkommen vom linearen Ansatz – herstellen, nutzen, entsorgen – zu Gunsten der zirkulären, abfallvermeidenden Denkweise.
Dabei ist eine Kombination von High-Tech und Low-Tech sowie der suffiziente Umgang mit Ressourcen notwendig. Die technologische Optimierung von Produktionsprozessen ist wichtig; in der frühen Planung von Gebäuden haben wir vor allem ohne technische Hilfsmittel und ohne Beeinträchtigung unserer Bedürfnisse die Möglichkeit, die THG-Emissionen z.B. mit der Kompaktheit von Gebäuden, durch Grundrisseffizienz oder Verzicht auf Untergeschosse bedeutend zu reduzieren.
Die Sonne liefert täglich 10 000-mal mehr Energie zu uns, als was wir im Moment verbrauchen, doch der Fehler liegt darin, dass wir die allermeiste Energie durch Verbrennungsprozesse gewinnen. Unser Energieproblem ist daher ein Emissionsproblem. Wie ist das am besten zu ändern?
Selbstverständlich ist die Maximierung der Nutzung von erneuerbaren Energien die Basis für die Reduktion von THG-Emissionen. Auf Verbrennungsprozesse muss, wo immer möglich, konsequent verzichtet werden. Dies gilt sowohl bei den Gebäuden selbst als auch bei den vorgelagerten Produktionsprozessen für Baumaterialien.
Interessant ist, dass z.B. die CO2-Emissionen von Ameisen bezogen auf ihr Körpergewicht viel höher sind bei uns Menschen; da sie aber in perfekten Kreisläufen agieren, ist das hinsichtlich Nachhaltigkeit und Umweltbelastung kein Problem. Ihr Ansatz zielt genau darauf ab – was folgert sich für Sie daraus?
Wir können sehr viel lernen aus natürlichen Kreisläufen, auch wenn der direkte Vergleich nicht immer möglich ist. Menschliche Bedürfnisse sind vielfältig und vielschichtig. Unser Wohlbefinden hat sehr viel mit dem Gemütszustand, mit dem Erfüllen von Wünschen und letztlich auch mit Freizeitaktivitäten zu tun. Der persönliche Ausgleich hat aber tatsächlich auch sehr viel mit Natur und Naturverbundenheit zu tun.
Gemäss Fachleuten können wir Menschen es uns im Moment aus Nachhaltigkeitsgründen gar nicht erlauben, dass überall auf der Erde die Infrastruktur auf dasselbe Niveau wie bei uns angehoben wird, denn das würde den Ausstoss in der 3. Welt verglichen mit heute nochmals verdoppeln. Wie ist da vorzugehen? Wir in den reichen Ländern können ja nicht entwicklungsverhindernd wirken, irgendwo muss das ja ausgeglichen werden.
Wir haben diesbezüglich eine hohe Verantwortung und müssen zwingend die Vorbildfunktion einnehmen, beginnend beim Hinterfragen von unseren Bedürfnissen und Wünschen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir einen grossen Teil unserer Emissionen exportieren und Produkte aus ärmeren Ländern importieren. Zum gesamtheitlichen Ansatz gehört das Denken über die Grenzen hinaus. Unser Konsum hat weltweite Auswirkungen – nur gemeinsam können Nachhaltigkeitsziele angegangen werden. Dabei gehören neben den Umweltaspekten auch die wirtschaftlichen Folgen und vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen dazu.
Wie können wir einer hyperindividualisierten Welt wie bei uns dem gesellschaftsverträglich entgegenwirken?
Was bezüglich den Ländergrenzen angesprochen wurde, gilt auch für die Menschen selbst. Auf Landesebene können Regeln und Gesetze formuliert werden, um THG-Emissionen zu vermeiden (Top-Down). Genauso wichtig oder gar wichtiger ist jedoch der Bottom-Up-Ansatz: es sollte uns bewusst sein, dass die Emissionen auf der Summe der Aktionen und Bedürfnissen von jedem einzelnen von uns beruhen - die gesellschaftliche Verantwortung bei jedem Menschen selbst, bei alltäglichen Gewohnheiten, beim Essen oder beim Einkaufen.
Wir in der Schweiz glauben, mit unserem emsigen Sammeln von PET-Flaschen seien wir besonders gut unterwegs, dabei liegen wir beim Kunststoffrecycling in den neusten Statistiken ganz hinten. Wie ist das zu erklären?
Oftmals verspüren wir den Drang, uns auf Lorbeeren auszuruhen. Gewisse Prozesse funktionieren bestimmt sehr gut. Dazu gehört das PET-Recycling. Das ist aber nicht weit genug gedacht. Gerade PET ist ein ideales Beispiel: PET recyclen ist sehr gut, wird von uns und technisch wahrscheinlich auch bestens umgesetzt, viel besser ist aber auf PET, so gut es geht, zu verzichten, z.B. durch die Verwendung von wieder auffüllbaren Flaschen. Kunststoffe verursachen zudem nicht nur CO2-Emissionen, sie verschmutzen auch unsere Gewässer. Nur einzelne Prozesse zu optimieren, wird nicht zum Ziel führen.
In der Schweiz sollen die CO2-Emissionen des Gebäudeparks im Durchschnitt der Jahre 2026/27 gegenüber 1990 auf die Hälfte sinken. Wie soll das effektiv gelingen?
Langfristig werden wir zur Vermeidung von CO2-Emissionen den technologischen Fortschritt brauchen. CO2-Abscheidung und -Speicherung zur Reduktion von CO2 in der Atmosphäre, z.B. durch die dauerhafte Einlagerung von CO2 im Erdreich, wird vermutlich eine bedeutende Rolle spielen. Kurzfristig und zumindest vorübergehend können wir CO2 auch in unseren Gebäuden binden, zum Beispiel durch die Verwendung von Holz beim Bauen.
Die Reduktion von CO2-Emissionen im Ansatz gelingt jedoch hauptsächlich durch das Hinterfragen unseres Konsums: wie viel Gebäude brauchen wir? Lässt sich unser Flächenanspruch auch durch Sharing, durch gemeinschaftliches Nutzen, reduzieren?
Ein wichtiger Aspekt zur Reduktion der Emissionen ist sicherlich die bewusste, langfristige Nutzung von Gebäuden («Weiterbauen statt Ersatzneubauen»). Derselbe Ansatz der längerfristigen Nutzung lässt sich auf Ebene der Bauteile anwenden, durch «Reuse» (Wiederverwenden), «Repair» (Reparieren), «Refurbish» (Erneuern), «Remanufacture» (Refabrizieren), «Repurpose» (Umfunktionieren), «Recycle» (Rezyklieren) und «Recover» (energetisch Zurückgewinnen).
In der Bauwirtschaft könnte durch den Einsatz von Sekundärmaterialien und Leichtbau-Technologien der Ressourcenverbrauch stark reduziert werden. Was ist hier Ihr Wissensstand zu den Möglichkeiten und deren Umsetzung?
Die Materialwahl hat einen hohen Stellenwert. Alternative Materialien zu den bislang CO2-intensiven Baustoffen sind zu vorziehen, wo dies möglich ist. Das gilt für Beton, aber auch für andere Materialen. Im Projekt «Alternative Materialien für Lüftungsanlagen» (HSLU 2023) wurde als Ersatz von Metall und Kunstsoff beispielsweise der Einsatz von Holzwerkstoffen, Karton, aber auch Pilzen evaluiert. Das Potential von biologisch abbaubaren Materialien ist bei weitem nicht ausgeschöpft. Uns schwebt u.a. der Ansatz des «kompostierbaren Hauses» vor. Die aktuell wieder wachsende Bedeutung des Lehmbaus in der modernen Architektur ist in diesem Sinn absolut erfreulich.
Für die erforderliche Minimierung der Emissionen wird auch die Gebäudetechnik entscheidend mitzuwirken haben. Was muss geschehen?
Sind Planer auf der Suche nach alternativen Konzepten zur Minimierung von Emissionen, bieten sich bei den Baustoffen heute mehr Möglichkeiten an als bei der Gebäudetechnik. In der Ökobilanzdatenliste für den Bausektor finden sich viele Daten zu den verschiedensten Baumaterialien, jedoch nur wenige zur Gebäudetechnik. Wir versuchen mit dem aktuell laufenden Projekt «neue Ökobilanzdaten der Gebäudetechnik» das Spektrum zu erweitern.
Ein grundlegender Aspekt bei der Gebäudetechnik liegt im No-Tech-Ansatz: nur so viel Gebäudetechnik einbauen, wie tatsächlich nötig ist. Dabei stellt sich die Frage, welche Bedürfnisse sind zu erwarten, bzw. welche wollen wir erfüllen und wie. Die Beantwortung muss langfristig erfolgen. Mit dem Klimawandel werden wir künftiger weniger heizen und mehr kühlen. Wollen wir dazu möglichst energieeffiziente Gebäudetechnik einsetzen, z.B. mit optimierter Nutzung von erneuerbaren Energien, oder wollen wir unsere Architektur so anpassen, dass wir weder konventionelle Heizungs- noch Kühlanlagen benötigen. Bauen wir Gebäudetechnik ein, gilt es wiederum, die Lebenszeit der einzelnen Komponenten möglichst zu verlängern. Ansätze wurden beispielsweise in unserem Projekt «Reuse-Potential bei Lüftungsanlagen» (HSLU 2023) dargelegt.
Es muss uns jedoch bewusst sein, dass ohne Gebäudetechnik das Emissionsproblem kaum gelöst werden kann. Wir sind auf die Energieproduktion am Gebäude angewiesen. Die Speicherung – im Tagesverlauf aber auch saisonal – wird ein zentraler Teil der Lösung sein, so wie die Synergien zwischen Gebäude und Mobilität oder die Vernetzung und Energienutzung auf Quartierebene.
Was würde das Primat einer Kreislaufwirtschaft für die energieintensive Bauwirtschaft bzw. für die Gebäudetechnik bedeuten?
Das Denken in Lebenszyklen bzw. in Zeitabschnitten wird zentral sein. Dabei muss auf sich ändernde Bedingungen und Bedürfnisse eingegangen werden. Bei der Gebäudetechnik wird die Flexibilität besonders wichtig sein, die Austauschbarkeit von einzelnen Komponenten dementsprechend einen noch höheren Stellenwert als heute aufweisen müssen. Das bedingt eine konsequente Systemtrennung und grundsätzlich lösbare Verbindungen.
Die Gebäudetechnik darf zudem nie isoliert betrachtet werden. Die Synergien mit dem Gebäude sind immer auszuloten, aber auch solche mit der umgebenden Natur sind zu untersuchen. In unserem aktuell laufenden Projekt «GreenPV» (HSLU 2023) wird beispielsweise die optimale Gestaltung von Gebäudefassaden untersucht. Dabei geht es einerseits um die Energiegewinnung durch fassadenintegrierte Photovoltaik-Elemente v.a. im Hinblick auf den Strombedarf in den Wintermonaten und anderseits geht es um die Bekämpfung des städtischen Wärmeinseleffekts durch Fassadenbegrünung. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls interessant, dass PV-Module durch Abkühlung ihre Stromproduktion erhöhen.
Wo sehen Sie hier realistische Umsetzungsmöglichkeiten, was wird möglich sein und was nicht?
Es liegt eine grosse Vielfalt von Ansätzen zur Reduktion von Emissionen vor, die verfolgt werden müssen. Deren Wirkung wird durch Interdisziplinarität erhöht. Nur die Kombination von Gebäudetechnik, Architektur, Raumplanung und technologischer Fortschritt kann das Reduktionspotential tatsächlich abrufen. Gesamtheitliches Denken wird zum Erreichen der Ziele unabdingbar sein. Dazu sind gesellschaftliche Aspekte genauso mit zu berücksichtigen.
Die Einstellung der Menschen wird bei Gebäude und Technik eine bedeutende Rolle einnehmen. Wichtige Aspekte dabei sind das Wiederentdecken der langen Verwendung von Objekten, aber auch der Schönheit der Patina oder der Ästhetik von natürlichen Materialien. Ein gewisser «Mut zur Imperfektion» wird womöglich weiterhelfen. Alles ist im Hinblick auf einen möglichst kurzfristigen Beitrag zum langfristigen Wohlbefinden von Gesellschaft und Menschen zu sehen. Denn im Zentrum der Reduktion der CO2-Emissionen durch die Kreislaufwirtschaft ist letztlich der Menschen und unser aller Wohlbefinden.