Stromerzeugung

Illustration einer WaveRoller-Anlage mit der im Seegang hin- und herschwingenden Metallplatte am Meeresgrund in Küstennähe. (Foto: AW Energy)

Haustech 5/2018

«Blauer» Strom aus dem Ozean

Das Energiepotenzial der Meere ist immens, wird aber kaum ausgeschöpft. Trotzdem schreitet die Kommerzialisierung der Anlagentechnik voran. Unmittelbar vor dem Rollout steht beispielsweise ein von einem finnischen Unternehmen entwickelter Konverter, der mithilfe von Meereswellen Strom erzeugt.

Wellenkraftwerke  nutzen die Energie der Meere zur Gewinnung elektrischen Stroms. Im Unterschied zu Gezeitenkraftwerken nutzen sie jedoch nicht die Energiedifferenz zwischen Ebbe und Flut, sondern die durch den Seegang kontinuierlich erzeugte Wellenkinetik der Ozeane. Heute ist das Meer die grösste noch nicht erschlossene erneuerbare Energieressource der Erde. Weltweit könnte mit Unterwasseranlagen insgesamt mehr Strom erzeugt werden als in allen fossil betriebenen Kraftwerken Europas zusammen.

Ein Arbeitspapier der Europäischen Kommission bezifferte vor fünf Jahren die potenziell installierte Bruttoleistung solcher Anlagen für das Jahr 2020 auf über 2200 Megawatt. Längerfristig rechnet die EU damit, dass bis 2050 rund fünf Prozent der Elektrizität in Europa mit maritimen Stromerzeugungssystemen generiert werden könnte. Noch befinden sich jedoch die meisten Anlagen in der Test- und Pilotphase. Ausserdem stehen unterschiedliche Funktionsprinzipien und Technologien im Wettbewerb.

Kurz vor der Kommerzialisierung steht das finnische Start-up AW Energy, das bei der Entwicklung küstennaher Wellenkraftwerke eine Vorreiterrolle spielt. Sein Vorzeigeprojekt – der sogenannte WaveRoller – ist ein Wellenenergiekonverter, der sich komplett unter Wasser befindet und mithilfe der Meereswellen Strom erzeugt. Chef der Firma ist seit Februar der Brite Christopher Ridgewell. Der Schiffsbauingenieur sieht grosses Potenzial in der Technologie.

Zufall gab Initialzündung

Am Anfang stand eine simple Beobachtung am Unterseefundort eines Wracks. Die zündende Idee kam Profitaucher Rauno Koivusaari zu Beginn der Neunzigerjahre bei einem Tauchgang. Dabei entdeckte der Finne einen Lukendeckel eines Frachtschiffs, der in der Strömung hin- und herschwang. Mit den Armen und einem Holzstiel versuchte er, den Deckel zu stoppen, doch er scheiterte. In diesem Moment erkannte er, dass im Wellengang eine Menge Bewegungsenergie steckte, die sich entsprechend nutzen lassen müsste, um Strom zu erzeugen.

«Gemeinsam mit Freunden begann er dann, Forschungen anzustellen», erzählt Ridgewell. «Die erste Testvorrichtung bestand aus einem quadratischen Paneel mit einer Kantenlänge von einem Meter, das er am Meeresgrund an eine Pumpe anschloss. Das war sozusagen der erste Nachweis, dass es funktionierte.» Nach Tests von Pumpvorrichtungen beschlossen die Entwickler jedoch, einen anderen Weg zu beschreiten: Man entschied sich für ein Hydrauliksystem mit angeschlossenem Stromgenerator.

Ein wichtiger Entwicklungsschub gelang dem Jungunternehmen, als im Rahmen eines Forschungsrahmenprogramms erstmals EU-Fördergelder ins Projekt flossen. In der Zeit entwickelte man die erste Testanlage, die 2012 vor der Küste Portugals installiert wurde.

«Es war eine wegweisende Entscheidung, eine schwimmende Trägerplattform zu konstruieren, die man auf den Meeresgrund absenken konnte», sagt Ridgewell. «Dies hatte den grossen Vorteil, dass wir keine teuren Frachtschiffe für den Transport benötigten. Stattdessen konnten wir die Plattform an einen Kahn tauen und zum Einsatzort schleppen.» Die Absenkung der Plattform erfolgt Flanke für Flanke in zwei Schritten, womit ein unkontrolliertes Abdriften der Konstruktion verhindert wird. Dieses Verfahren wurde zum Patent angemeldet und fusste auf einer Idee des Firmengründers Koivusaari, der sich inzwischen aus dem operativen Geschäft zurückgezogen hat, sich aber als Miteigentümer weiterhin aktiv am Unternehmen beteiligt.

Zwei Subsysteme

Die eigentliche Anlage nannten die Entwickler WaveRoller – zu Deutsch «Wellenbrecher». Sie besteht aus der Stromabnehmereinheit, der sogenannten Power-Take-Off-Unit, und den Dämpfungsgliedern, die auf einer vertikalen Metallplattform am küstennahen Meeresgrund in einer Tiefe von 8 bis 20 Metern verankert sind. Die Wellenbewegung erzeugt in der Anwendung ein sanftes Oszillieren der Stahlflügel. Die Unterwasserwellen der Meeresströmung bewegen die Flügel mit einer durchschnittlichen Frequenz von 9 bis 15 Sekunden einmal hin und her, wobei ein einzelnes Paneel bei grossen Wellen bis zu zwei Megawatt Energie absorbieren kann.

Die daraus resultierende Bewegungsenergie wird anschliessend in die aus zwei Subsystemen bestehende Anlage in Strom umgewandelt. Zunächst erfasst ein Hydrauliksystem die kinetische Wellenenergie der Paneele und speichert sie unter hohem Druck in Akkumulatoren. Diese Hydraulikspeicher dienen der Zwischenspeicherung der Wellenenergie, die nicht gleichmässig, sondern in Schüben generiert wird. In einem zweiten Subsystem werden diese Akkumulatoren dann entwässert, bevor in einem dahinter geschalteten Stromgenerator die Elektrizität erzeugt wird, die anschliessend über ein Unterseekabel zu einem Transformator an Land fliesst und ins Netz eingespeist wird. Die Anlage ist hermetisch gekapselt, damit das Meer bei einem schweren Störfall nicht verunreinigt wird.

Effekte der Brandung

Der WaveRoller macht sich die Bewegungsenergie der Brandung zunutze. Diese entsteht, sobald Wellen flache Meeres-
bereiche in Küstennähe erreichen. In der Flachwasserzone, wo die Brandung wirkt, werden die Wellen mit abnehmender Wassertiefe immer höher, bevor sie schliesslich brechen und in der Auflaufzone ab-
ebben. Auf hoher See entstehen die Wellen durch Windeinwirkung. Je länger und je härter der Wind aufs Meer weht, desto länger wird die Welle. Grosse Meereswellen erreichen Längen von bis zu 150 Metern.

«Da die Wassertiefe einen unmittelbaren Einfluss auf die Länge der Wellen hat, werden diese bei Eintritt in küstennahe Abschnitte immer kürzer», führt Christopher Ridgewell aus. «Die Höhe der Wellen wird durch die Meerestiefe begrenzt. Bei einer Tiefe von zehn Metern können die Wellen somit maximal 7,2 Meter hoch werden. Damit brechen die wirklich hohen Tiefwasserwellen von über zehn Metern Höhe lange, bevor sie die Küste erreichen, denn der Meeresgrund funktioniert wie ein Filter.» Dies, so Ridgewell weiter, sei gut für den WaveRoller, denn damit sei die Anlage vor Wetterextremen geschützt.

Die Brandungszone in Küstennähe hat aber noch einen weiteren positiven Effekt: Sie beeinflusst auch die Wellenrichtung. Am effizientesten funktioniert die Anlage nämlich, wenn die Wellen frontal auf die schwenkenden Platten auftreffen. Dies ist unabhängig von der Strömung in der Regel der Fall, und zwar deshalb, weil die Wellen beim Eintritt in flachere Wassertiefen ihre Richtung derart ändern, dass sie sich senkrecht auf die Küstenlinie ausrichten. «Selbst wenn die Wellen von der Tiefsee im schrägen Winkel eintreffen, richten sie sich in der Brandungszone in geradem Winkel zur Küste aus. Dies bedeutet, dass die Bandbreite der Wellenrichtungen begrenzt ist, was den Paneelen zugutekommt», so Ridgewell.

Hohe Vorhersagbarkeit

Einer der grossen Pluspunkte der Wellen-
energie im Vergleich zu anderen erneuerbaren Technologien, den Ridgewell nicht müde wird zu betonen, ist die zuverlässige Vorhersagbarkeit der Wellen: «Die Windenergie kann man nur ungefähr eine Stunde im Voraus prognostizieren, denn der Wind ändert ziemlich oft seine Richtung und Stärke.» Auch gegenüber der Sonnenenergie gibt es Vorteile: «Natürlich produzieren Solarzellen nachts keinen Strom.

Doch auch tagsüber kann es zu dramatischen Veränderungen kommen, wenn beispielsweise Wolken für Verschattung sorgen. Demgegenüber kann die Wellenenergie im Atlantik mit hoher Zuverlässigkeit eine Woche im Voraus berechnet werden», schildert Ridgewell. Dies wisse man aus jahrelangen Erfahrungswerten beispielsweise der norwegischen Ölindustrie im Nordatlantik, wo Bohrungen auf der Grundlage solcher Vorhersagen geplant und ausgeführt würden, ergänzt der Experte. Noch bessere Prognosen liessen sich in den Tropen machen. Dort könnten Wellenrichtung und -intensität sogar mit zwei Wochen Vorlaufzeit prognostiziert werden.

Ozeane sind wie riesige Batterien

Christopher Ridgewell zählt weitere Vorzüge auf: «Ein WaveRoller benötigt viel weniger Platz als eine Windkraftanlage, denn die Paneele können sehr dicht beieinander stehen. Wenn man sich den Energiefluss anschaut, dann erzeugt eine Windturbine im Schnitt zwischen 300 und 400 Watt pro Quadratmeter. Bei einem Wellenkraftwerk sind es jedoch 40 000 Watt. In Wellen steckt somit ein Vielfaches an Energie.» Dafür gebe es eine einfache Erklärung, ergänzt der Fachmann: «Meereswellen speichern die Energie des Windes.»

Im Sektor der erneuerbaren Energien werde viel über die Notwendigkeit gesprochen, eine Speichertechnologie zu entwickeln, um Strom im Industriemassstab zwischenzuspeichern, falls der Wind nicht bläst oder die Sonne nicht scheint, erläutert Ridgewell. «Bei dieser Diskussion sollten wir nicht vergessen, dass das Meer eigentlich eine Art Speicher ist. Der Wind bläst über immense Gebiete des Ozeans und erzeugt auf diese Weise die Meereswellen, die sehr grosse Distanzen auf ihrer Wanderung zurücklegen», so der AW-Energy-Chef. «Eine Welle, die an der amerikanischen Ostküste entsteht, braucht Tage, bis sie die Küsten Europas erreicht. Die Energie des Windes ist somit in den Wellen gespeichert. In diesem Sinne funktioniert der Ozean wie eine riesengrosse Batterie, die man eigentlich nur anzuzapfen braucht.»

Geringfügige Umweltauswirkungen

Welchen Fussabdruck hinterlässt die Konverteranlage in der maritimen Umwelt? Christopher Ridgewell ist bestrebt, bei der Zertifizierung der Technologie die Umweltauswirkungen als vernachlässigbaren Faktor einstufen zu lassen. Es sei klar, dass die Anlage im Meer gewisse Auswirkungen habe, denn sie werde an einen Ort platziert, wo vorher nichts stand. «Aber die Paneele bewegen sich nicht durch, sondern mit dem Wasser», betont der Ingenieur. «Sie werden Fischen keinen Schlag versetzen, sondern sich mit ihnen bewegen.»

In Portugal hat AW Energy bereits einige Erfahrungen gesammelt. Im Atlantik bei Baleal nördlich der Hafenstadt Peniche betreibt die Firma seit August 2012 drei Prototypen mit einer Gesamtnennleistung von 300 Kilowatt in 900 Metern Entfernung von der Küstenlinie. Wie Christopher Ridgewell im Gespräch ausführt, stehe die Anlage in einer strandnahen Umgebung in einer eigenen Sperrzone, die mit kleinen Signalbojen gekennzeichnet sei. Inzwischen sei die Anlage von Meerschlamm in Beschlag genommen, der jede Menge Fische anziehe. Die Anlage stehe in einem geschützten und intakten Ökosystem. Und Beobachtungen hätten gezeigt, dass kein negativer Einfluss auf die Tier- und Pflanzenwelt bestünde. Messungen hätten zudem ergeben, dass die Lärmbelastung nur minimal über den gängigen Frequenz-
bereichen liege.

Für die Meeresfauna konnte also kein negativer Effekt nachgewiesen werden. Doch wie steht es mit den Fischern? Auch hier gibt der Brite Entwarnung. «Wir operieren in Gebieten mit Tiefen von 10 bis 15 Metern. Mit einem Freizeit- oder Sportboot werden Sie mit Sicherheit nicht in dieser Zone fahren wollen, weil es dort viel zu ungemütlich ist. Und Frachtschiffe fahren definitiv in tieferen Gewässern. Es bleiben folglich nur noch die Angler und Fliegenfischer. Diese mögen es sogar, in der Nähe unserer Anlagen zu fischen. Sie sagen, dass ihre Fänge dadurch ertragreicher sind. Entsprechend gut ist unser Verhältnis mit den lokalen Fischern in Portugal.»

Durchbruch in Reichweite

Im Surferparadies bei Peniche wird AW Energy auf Wunsch eines Kunden aus Irland neu nun eine erste Pilotprojekt-
anlage im Originalmassstab mit 350 Kilowatt installieren und ans Stromnetz anschliessen. Die Europäische Investitionsbank steuert 10 Millionen Euro als Darlehen bei. Christopher Ridgewell ist zuversichtlich, dass damit der WaveRoller dem endgültigen kommerziellen Durchbruch ein grosses Stück näher rückt. Das Unternehmen hat Vertriebskontakte in sechs Ländern und will in den kommenden Jahren mehr als fünfzig Anlagen verkaufen.

Ein weiteres Demonstrationsprojekt wird in Zusammenarbeit mit dem finnischen Energiekonzern Fortum und der französischen Marinewerft DCNS an der bretonischen Küste umgesetzt. Es besteht aus drei WaveRoller-Kraftwerken, die sich einige hundert Meter vom Ufer entfernt komplett unter Wasser befinden. Ziel des Projekts ist es, «blauen» Strom aus dem Meer zu produzieren und zu einem vergleichbaren Preis ins Netz zu speisen wie Strom aus Offshore-Windfarmen.

Im September 2017 gab AW Energy eine umfassende Verkaufs- und Liefervereinbarung mit dem Schiffsmotoren- und Kraftwerkshersteller Wärtsilä aus Helsinki bekannt, der die Markteinführung des WaveRoller vorantreiben soll. Das
Agreement beinhaltet eine Zusammenarbeit in den Bereichen Maschinenbau, Beschaffung und Konstruktion. Bereits im Mai davor hatte der Konzern angekündigt, Komponenten für den WaveRoller zu liefern. Die Kooperation hat schon zu Neuerungen in der Versiegelungs- und Lagertechnik geführt: So hat Wärtsilä den WaveRoller mit neuen Verbundstoff-
lagern, hydraulischen Kupplungen, Dichtlippen- sowie Lagergehäusen ausgestattet, die gänzlich auf Schmierlösungen auf Wasserbasis setzen, was die Anwendung einerseits vereinfacht und andererseits Umweltbedenken zerstreut.

Lokale Wertschöpfung

Die Kommerzialisierung der Anlage ist aber nur ein Teil der Unternehmensstrategie. Wie Christopher Ridgewell beteuert, sei die Wertschöpfungskette bei einem Wellenenergieprojekt sehr lang. Da sei alles dabei, von den Zuliefererkomponenten über die Installation der Anlage und der Seekabel, die Bilanzierung des Stromnetzes bis zu Betrieb und Wartung. «Wir sind zuversichtlich, dass wir Jobs schaffen werden für jene Leute, die normalerweise bei Investitionsentscheiden keine Priorität geniessen. Mit unseren Anlagen bringen wir den kleinen Küstengemeinden Arbeit, zum Beispiel den Tauchern für die Wartung oder den Technikern beim Betrieb der Anlagen. Und wenn eine Werft in der Nähe ist, dann können dort die Plattformen gebaut werden. Auf diese Weise bekommt die lokale Bevölkerung einen grossen Teil des Kuchens ab.»

Ziel von AW Energy sei es nicht, fährt Ridgewell fort, die Anlagen zu besitzen oder zu betreiben. «Wir beschränken unsere Rolle bewusst darauf, die Anlage herzustellen und zu liefern.» Auch hier macht Ridgewell einen Vergleich zur Windenergie: «Windkraftanlagen werden normalerweise in den Werkshallen der Herstellerfirma gefertigt. Anschliessend bauen Spezialisten den Windpark auf und verschwinden nach getaner Arbeit wieder. Für die Leute vor Ort bleibt nichts übrig. Unsere Strategie ist eine andere.»

Gute Zukunftsaussichten

Der studierte Schiffsbauingenieur gibt sich im Hinblick auf die Zukunft der Energiegewinnung aus dem Ozean sehr zuversichtlich und ist davon überzeugt, dass maritime Kraftwerksysteme im europäischen Stromnetz der Zukunft eine wichtige Funktion einnehmen werden. «Der WaveRoller», so sagt er, «ist eine küstennahe Anlage, doch es gibt auch Offshore-Anlagen, Techniken zur Gewinnung thermischer Energien aus dem Meer oder Gezeitenkraftwerke. In den nächsten Jahren werden wir Zeugen grosser Fortschritte sein.» Und Ridgewell ist sich sicher, dass die Wellenenergie einen wichtigen Part spielen wird. Denn sie habe die Eigenschaft, vorhersagbar zu sein, betont er. «Ausserdem hat sie gegenüber anderen Technologien den Vorteil, Strom unterbrechungsfrei und stabil produzieren zu können. Gezeitenenergie hat die Nase vorn zurzeit, doch gleich dahinter kommt die Wellenenergie.»